Angst schränkt Ihre Persönlichkeit ein und verkrampft Ihre Stimme

“Angst essen Seele auf“ … Dieser Filmtitel des verstorbenen Regisseurs Rainer Werner Fassbänder bringt es auf den Punkt. Wenn man es auf die Stimme überträgt, kann man genauso gut sagen: Angst schnürt die Kehle zu.

Denn es ist tatsächlich so. Das, wovor man Angst hat, kommt auf einen zu und schlägt unbarmherzig zu. Dabei ist es in der Regel so, dass Angst häufig unbegründet ist und man sich selber dieses „Zuschnür“-Paket schnürt.

Fünf Gründe, warum Menschen Angst haben, wenn es um Singen geht

Allein die bloße Vorstellung, was passieren könnte, wenn … jetzt der Ton platzt, wenn ich krächze, wenn ich falsch singe und und und, reicht völlig aus, um sich enorm zu verkrampfen.

Diesen Part übernimmt meist die Zunge. Sie zieht sich nach hinten und verhindert, dass der Ton frei schwingen kann. Es ist zudem häufig so, dass man bei Angstzuständen oder Unsicherheiten vergisst, dass es einen tiefen Atem und eine Stütze gibt, die doch der Stimme Halt und Volumen geben.

Aus der Praxis meines Gesangsunterrichts konnte ich feststellen, was die Menschen Angst haben lässt. Diese 5 Gründe können so große Angst erzeugen, dass der Ton deshalb meist wirklich daneben geht oder hart, unschön und verkrampft klingt:

1. Angst generell vor dem Singen, weil man als Kind oder Jugendlicher immer gehört hat, dass die Stimme nicht schön ist und man deshalb nicht (mit-)singen solle.

2. Angst vor dem ersten Ton.

3. Angst vor einem vermeintlich hohen Ton.

4. Angst, die Kontrolle abzugeben.

5. Angst, sich zu bloßzustellen.

So unterschiedlich die Charaktere, das Alter und der berufliche Hintergrund meiner Stimmschüler auch sind, so ähnlich sind sich viele Verhaltensweisen beim Gesangsunterricht.

Lassen Sie uns die 5 Punkte mal nacheinander durchgehen.

1. Angst vor dem Singen allgemein

Meine Bewunderung gilt wirklich den Menschen, die meinen Unterricht aufsuchen, weil sie als Kind immer gehört haben: Lass das Singen sein. Du kannst nicht singen. Du klingst schrecklich etc. Sie möchten es doch nochmal ganz genau wissen. Haben sie wirklich so schrecklich geklungen? Oder war das eher nur Willkür der Lehrer oder Mitschüler oder Ungeduld der Eltern und Geschwister?

Eines ist klar, es gibt begabte und unbegabte Menschen. Und man muss und kann nicht für alles gleich begabt sein. Aber wir sehen, wie tief der Wunsch, zu singen, im Menschen verwurzelt ist. Denn diejenigen, die zu mir kommen, weil sie es noch einmal mit dem Singen probieren möchten, sind alles in der Regel gestandene Frauen – Männer trauen sich leider viel weniger.

Diese Frauen sind häufig sehr erfolgreich im Beruf, in Führungspositionen oder in anderen firmenstrategisch wichtigen Stellungen tätig. Jedoch das Trauma aus der Kindheit hat sie bis heute nicht losgelassen. Dieser Mut ist bewunderungswürdig, dann den Entschluss zu fassen, in den Gesangsunterricht zu gehen.

Nun gilt es, behutsam an die Stimme heranzugehen. Das erste Wieder-Kennenlernen mit der Gesangsstimme ist oftmals nicht einfach. Die anfänglich noch störrischen Klänge sind ungewohnt und das Gehör vielfach nicht trainiert. Einige haben, wie sie mir erzählten, seit ca. 40 Jahren nicht mehr gesungen.

Welch ein Erlebnis ist es aber, wenn irgendwann nach Wochen oder sogar erst nach Monaten ein schöner und sauberer Klang dem Mund entströmt. Nicht selten fließen dabei Tränen …

Das Trauma ist jetzt dabei, aufgelöst zu werden. Das ist auch für mich ein wunderschöner Augenblick, wenn ich das Leuchten in den Augen der Damen sehe und sie glücklich aus der Stunde gehen. Sie haben die Liebe zu ihrer Stimme, ihrem Klang wiedergefunden. Dies oftmals erst nach Jahrzehnten …

2. Angst vor dem ersten Ton

Oh ja, die Angst vor dem ersten Ton. Ich kenne sie nur allzu gut auch aus meiner aktiven Zeit als Sängerin. Wer will es also Gesangsneulingen verübeln, wenn diese Angst wie eine Wand vor ihnen steht.

Die Angst vor dem ersten Ton entsteht meist aus falscher Behandlung der Vokallaute oder weil er bei schwereren Gesangsstücken recht hoch angesiedelt sein kann. Zu Letzterem kommen wir im nächsten Punkt.

Bei den Vokallauten sind die gefürchtetsten „i“ und „e“. Dabei sind sie gar nicht so schrecklich, wenn man sie nicht breit und flach singt, sondern sie sich rund denkt. Dazu verhelfen eine ovale Mundstellung und eine Zunge, die nicht den Rückwärtsgang einlegt, sondern brav im Unterkiefer liegt. Dazu sollte man auch den Rachen und die Kehle weiten. Mit einer leichten Gähnstellung schafft man das recht gut.

Hochatmung vermeiden, das Zwerchfell nach unten lassen und den Ton nicht als Feind sehen. Besser ist es, wenn man sich vorstellt, ihn zu streicheln oder ihn einfach als guten Freund begrüßen.

Diese geistigen Vorstellungen bewirken so unglaublich viel in der ganzen Einstellung der Sprache oder dem Gesang gegenüber. Sie allein sorgen schon für eine gute und positive Körperspannung.

3. Die Angst vor dem vermeintlich hohen Ton

Sie ist bei fast allen Schülern vorhanden. Die Höhe, bei der das Zittern beginnt, ist dabei sehr unterschiedlich. Bei dem einen fängt die Angst schon bei einem eingestrichenen „a“ an, bei dem anderen erst bei einem zweigestrichenen „e“.

Was passiert dabei? Ich bin kein Arzt, aber ich beobachte natürlich sehr genau. Kommt ein Schüler beim Gesang in eine Tonregion, die ihm vermeintlich hoch erscheint, zieht sich unwillkürlich die Zunge in den Rachenhintergrund zurück. Auf diese Art und Weise drückt der Zungengrund auf den Kehldeckel und lässt keinen frei fließenden Ton mehr zu.

Man möchte damit wohl der Stimme unterstützend „unter die Arme greifen“, und ihr helfen, den hohen Berg zu erklimmen. Meist schaut man auch noch angestrengt zur Decke, weil ja da oben der Ton sitzt ;). Doch das ist natürlich ein Trugschluss. Eine Faustregel sagt: Hohe Töne sucht man auf dem Boden, die tiefen an der Decke. Nun so ganz würde ich hier nicht zustimmen, denn grade auf dem Boden zu schauen während des Singens ist nicht empfehlenswert. Gemeint ist aber, bei hohen Tönen keinesfalls „himmeln“, denn unwillkürlich greift auch wieder die Zunge und Zungenwurzel ein, wenn man sie nicht dazu erzieht, locker an den unteren Schneidezähnen liegen zu bleiben.

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Ich gehe immer mehr dazu über, meinen Stimmcoachees die Vorstellung nahe zu bringen, dass jeder Ton, und ich meine jeder, direkt vor den Augen ist. Sie müssen ihn hier nur „abpflücken“. Diese Vorstellung bringt erstaunlich gute Ergebnisse. Fast von allein stellt man die richtige Mundbewegung ein, der Rachen weitet sich auch fast automatisch und die Zunge regt sich nicht schon wieder auf und meint, sie müsse eingreifen. Indem man dem Gehirn vorgaukelt, dass der Ton direkt vor einem steht, liegt oder hängt, macht es keine Anstalten, eine Verkrampfung in den Singwerkzeugen auszulösen.

4. Angst, die Kontrolle abzugeben

Die Kontrollfreaks unter meinen Schülern haben es mitunter sehr schwer. Manchmal habe ich das Gefühl, sie sehen in ihrer Stimme ein Pferd, dass sie unglaublich zügeln müssen. Die Zunge ist dabei immer und immer wieder nach hinten gezogen und der Rachen nicht locker offen.

Meist habe ich es hier auch wirklich mit Frauen oder auch Männern zu tun, die sich im Berufskampf immer wieder bewähren und durchsetzen müssen. Sie sind in einer Funktion, die Kontrolle ausüben müssen und auch nicht gern etwas aus der Hand geben.

Sie sind fast immer gestresst, wenn sie in die Stunde kommen und erst durch einige wohltuende Atemübungen kommen sie dann innerlich zur Ruhe und sind mental dann auch im Unterricht angelangt. Manchmal dauert es aber auch bis zu einer halben Stunde, bis sie im Hier und Jetzt sind. Es ist tatsächlich so, dass das Singen vieles offenbart, was in der Psyche eines Menschen vorgeht.

Erst wenn sie den Mut aufbringen und sich dem Singen wirklich öffnen, kommen erstaunliche Töne zu Tage. Es ist ein wahrhaftiges Loslassen, nichts mehr festhalten wollen. Ein Akt der Selbstüberwindung. Erst wenn man über den eigenen Schatten springt, erfährt man, wie leicht plötzlich Klänge produziert werden können. Und dann höre ich immer wieder sagen, wie mühelos ein ansonsten anstrengender Ton sich eben anfühlte.

Hier gilt es zu lernen, der eigenen Stimme zu vertrauen. Ihr zuzutrauen, dass sie auch ohne größere Eingriffe oder vermeintliche Korrekturen durch Zunge, Gaumen und Kehlkopf Klänge hervorzaubern kann. Letztendlich viel besser, als wenn man sie ständig zügeln und regulieren will.

5. Angst, sich bloß zu stellen  

Ein nicht zu unterschätzender Angstfaktor ist die Furcht davor, sich zu blamieren. Menschen, die noch fremd in meinem Gesangs-Studio sind, fühlen sich erstmal etwas gehemmt. Denn jetzt müssen sie etwas von sich preisgeben. Sie wissen auf der einen Seite nicht, wie ihre Stimme unter der Anspannung klingen wird und auf der anderen Seite nicht, was ich dazu sagen werde.

Da sie in der Regel ihren Atem noch nicht so gut unter Kontrolle haben, wird fast immer die Stimme bei einigen leichten Gesangsübungen immer leiser und verhauchter.

Dabei gibt es gar keinen Grund, aufgeregt zu sein. Denn was soll passieren? Selbst wenn ein schiefer Ton herauskommt, ist das noch nicht das Todesurteil für den Gesangsunterricht. Ein Lehrer wird hören, ob sich ein gutes Stimmmaterial hinter dem verunglückten Ton verbirgt. Und selbst, wenn die Stimme insgesamt sehr dünn ist, kann man aus einem guten Unterricht eine ganze Menge für sich, seine Persönlichkeit und den Beruf herausholen. Und mit der Zeit wird auch die Stimme kräftiger.

Gesangsunterricht lohnt sich immer und es zeugt in der Regel von Lernbereitschaft, dem Wunsch nach Weiterkommen und zeigt auch häufig eine enorme Selbstüberwindung.

Ich habe größten Respekt vor diesen Menschen.

So besiegen Sie diese 5 Angstfaktoren

Nun will ich analog der o.g. Punkte kurz zusammenfassen, was nötig ist, diese 5 Angstfaktoren zu überwinden:

1. Man braucht Mut, sich der Angst zu stellen und schlimmstenfalls wieder zu hören, dass man besser den Mund halten solle. Doch wer anfängt, an der Stimme zu arbeiten, wird sein Trauma überwinden. Und nach einiger Zeit treten weitere positive Faktoren ein, die ich immer wieder beobachte:

a) Die Haltung wird insgesamt besser;
b) die Schultern fallen nicht mehr nach vorne
c) oder im andern Fall, sie sind nicht mehr hochgezogen;
d) das Gehör wird trainiert und verbessert
e) und natürlich wird der Klang der Stimme angenehmer und voluminöser.

2. Positive Vorstellungen von Vokalen, Konsonanten und  Tönen. Sie tragen letztendlich zur richtigen Körperspannung bei.

3. Es ist wichtig, geistige Vorstellungen zu trainieren. Schwierige Passagen, übertragen auch auf schwierige Situationen, auf Augenhöhe anschauen. Ihnen ins Auge schauen und sie nicht über oder unter sich sehen.

4. Kontrolle abgeben und Loslassen. Die Stimme klingt weitaus besser, wenn sie im wahrsten Sinn des Wortes nicht unter Zugzwang steht. Das heißt natürlich nicht, dass ich ohne Körperspannung singe, aber ich darf nicht verkrampfen. Sondern sie soll aus einer fröhlichen Lockerheit heraus entstehen.

5. Selbstüberwindung heißt auch, über seinen Schatten springen und damit seine Angst besiegen. Ein Gesangsunterricht sollte immer den ganzen Menschen im Blick haben. Denn nur dann wird seine Persönlichkeit wachsen.Singen bedeutet nicht, dass ich mal 2 kleine Stimmlippchen bewege. Singen benötigt den ganzen Menschen, Körper, Geist und Seele. Ich wiederhole mich hier sicher, weil ich es an anderer Stelle schon öfter gesagt oder geschrieben habe. Aber ich kann es auch nicht oft genug betonen.

Fazit:

Singen ist Freisetzung von Energie, von Gefühlen, von Musikalität und bedeutet das Abwerfen von Versagensängsten. Es ist auch ein sich Hineinfühlen in eine andere Welt, in eine andere Person bei der Interpretation von Texten z. B. Und damit ein wahres Kennenlernen seiner eigenen Person, was alles in ihr steckt. Singen lernen ist wahrhaft eine Begegnung mit einem anderen Wesen.

Ängste besiegen bedeutet, sie sich genau anschauen und nicht davor weglaufen. Nur so werden Sie über Ihr bisheriges Ich hinauswachsen und positive Überraschungen erleben. Singen ist ein Abenteuer, bei dem man nur gewinnen kann. Allerdings erfordert es auch Ausdauer, Willen und immer wieder eine Portion Mut.

Beatrice
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