Wer singt oder Gesangunterricht nimmt, braucht keinen Psychiater mehr. Denn Gesang bricht innere Schalen auf. Dabei lässt man alles starre Gefüge mit der Zeit hinter sich. Bei dem einen dauert der Prozess länger, beim anderen ist es innerhalb einer kurzen Phase geschehen.
Alte Gewohnheiten los zu werden und sie durch neue Vorgehensweisen zu ersetzen ist oftmals ein langwieriger Prozess.
Durch den Gesangunterricht lernt man sich plötzlich wirklich kennen, von ganz innen. Sozusagen von einer ganz anderen Seite. Meine Lehrerin Erika Zimmermann sagte immer, der Schüler muss den inneren Tastsinn entwickeln. Und genau dies gebe ich auch an meine Schüler weiter.
Der innere Tastsinn, der für manche zu Beginn des Unterrichts ein Buch mit sieben Siegeln ist. Menschen, die sich nie mit ihrem Körper beschäftigt haben, fällt es besonders schwer, diesen nun zu erkunden. Was heißt das nun?
Sich mit seinem inneren Körper zu beschäftigen, heißt ganz andere Vorgänge wahrzunehmen, als es im außerkörperlichen Bereich geschieht. Hier kann ich Muskeln spüren, ich fühle, wenn ich die Haut berühre und ich kann orten, wo ich was spüre. Ich kann sehen und hören. Das Körperinnere ist weitaus diffuser.
Auch und vor allem als Lehrer ist es nicht immer leicht, gewisse Vorgänge im Körper einfach zu erklären. So dass sie der Lernende versteht. Dazu muss ich sagen, dass vieles sofort oder nach kurzer Zeit verstanden wird, aber der Körper kann es noch nicht umsetzen. Zu viele unbewusste Vorgänge laufen automatisiert, so entstehen Gewohnheiten.
Diese zu verändern, benötigt einen längeren Prozess des Umdenkens.
Das Unterbewusstsein ist ein träges Tier …
Die Zunge als Stimm(ungs)macher – mal angespannt, mal zu quirlig und meist verkrampft.
Für den Schüler ist es häufig ein gefühltes Risiko, sich seiner Stimme anzuvertrauen. Bei manchen ist es ein richtiger Kontrollzwang, alles im Griff zu haben, damit es funktioniert. Bei anderen wieder der Drang nach Perfektionismus. Auch hier ist Loslassen die Lösung, ähnlich wie in vielen Bereichen des menschlichen (Zusammen-)Lebens.
Immer wieder erlebe ich es im Unterricht, dass Menschen sich selbst blockieren. Dies ist eine Geisteshaltung, eine innere Einstellung, die oftmals nicht die Kontrolle aus der Hand, in dem Fall aus der Zunge geben will. Die Zungenwurzel wird angespannt, zieht sich nach hinten und drückt so auf den Kehlkopf. Dass jetzt kein freier Ton entströmen kann, leuchtet ja ein.
Aber die Zunge locker zu lassen, ist eine Hürde, die manche tatsächlich Jahre nicht überspringen können. Sie fürchten sich vor dem Ton, der etwa entgleisen könnte, wenn sie die Kontrolle darüber abgeben.
Die Stimmlippen machen das eigentlich wunderbar von alleine. Sie benötigen keinen Druck, weder von oben noch in übermäßiger Weise von unten. Und schon gar nicht benötigen sie Druck von der Zungenwurzel. Wenn man sie lassen würde, würden sie sich einfach die Luft nehmen, die sie brauchen, um damit wunderbare und kräftige Töne zu produzieren. So aber werden sie ständig sozusagen vergewaltigt. Von unten wird gepresst und von oben drückt die Zungenwurzel oder es finden Muskelanspannungen im Kehlkopfbereich statt.
Wenn wir die Zunge nicht in den Griff bekommen und es lernen, sie locker zu lassen, singen und sprechen wir immer wie mit angezogener Handbremse. Die Stimmlippen werden überbeansprucht und können dabei nie wirklich glasklare Klänge und Laute hervorbringen.
Natürlich ist das salopp ausgedrückt, aber im Endeffekt ist es genau die Vorgehensweise. Jeder Sprecher oder Sänger sollte für die perfekte Schwingung der Stimmlippen die optimalen Gegebenheiten rundum schaffen, und im Grunde nicht in den klangerzeugenden Bereich eingreifen, dann klingt sie offen, frei und absolut authentisch.
Durch eine angespannte Zunge funktioniert auch der Atemapparat nicht richtig und wir schöpfen das volle Potential niemals aus. So klingt die Stimme immer rauh oder neblig, wie ich gern sage. Übermäßig viel Luft, die durch die Stimmritzen gepresst wird, kann sich gar nicht in reinen Klang verwandeln. Und das ist doch eigentlich jammerschade.
Gesangsunterricht wirkt befreiend und man lernt, sich von Zwängen loszulösen.
Im Stimmtraining lehre ich, wie man langsam die Körperabläufe spürt, um einen optimalen und klangvollen Laut zu produzieren. Die beteiligten Muskeln werden gestärkt, um Brust- und Rückenraum offen stehen lassen zu können. Dazu kommt der untere Stützmuskel, der hilft, den Ton anzuschwingen.
Beide zusammen – offener Brust- und Rückenraum und Stützmuskulatur – sind ein äußerst effektives Team und können optimal auch nur im Team arbeiten.
So schaffen Sie sich einen wirklichen Klangkörper.
Dies als Pädagoge zu erklären, ist nicht immer einfach, da es eine abstrakte Darstellung des Ablaufes darstellt. Man kann ja nicht sagen, jetzt drückst du mal auf die schwarze oder weiße Taste, wie beim Klavier. Der eigene Körper ist ja das Klanginstrument und das gilt es zu erforschen.
Doch wer es einmal geschafft hat, die Stimme wirklich wunderbar erklingen zu lassen, wird danach süchtig. Versprochen … Dieser Aha-Effekt bewirkt nämlich, dass der Trainee sich immer mehr nach diesem einzigartigen und vollen Klang sehnt.
Jeder empfindet seine eigene Stimme plötzlich ganz anders. Und hat plötzlich ein freies Körpergefühl, die Stimme klingt ohne Anstrengung, frei und voluminös. Was am Anfang zugegebenermaßen eine Hürde ist, die es zu überwinden gilt, wird mit der Zeit dann immer leichter.
Gut sitzende Töne – alles eine Frage des Geistes bzw. der geistigen Vorstellung und des Vorausdenkens.
Weil die Materie in der Darstellung nicht so einfach ist, arbeite ich im Unterricht deshalb viel mit Bildern. Hier kommt es natürlich immer auf den Typ des Lernenden an. Der eine braucht eine klare körperliche Vorstellung, der andere schafft es über Pflanzen- oder Naturbilder oder wieder andere mit baulichen Visionen.
Der Phantasie eines Lehrers sind hier keine Grenzen gesetzt. Eine meiner langjährigen Schülerinnen ist ein absoluter Zahlenmensch und übt beruflich eine verantwortliche Tätigkeit in diesem Bereich aus. Hier kam ich in einer Stunde auf die Idee, dass sie sich die einzelnen Körper-Bereiche als Zahl vorstellen sollte.
Ich kann mich noch gut erinnern, als sie in dieser Stunde Probleme mit der Atemführung hatte. Ich sagte ihr dann, stell dir vor, du bist eine Summe X und du gibst nichts davon her. Und was soll ich sagen, es hat funktioniert. Der Ton kam klar und rein. Wir haben sehr gelacht.
Die bloße geistige Einstellung bewirkt also schon die richtige Körperhaltung. Es ist wirklich nur die Vorstellung, z.B. wie der Ton klingen soll. Wo ich ihn ansiedle, ob ich mit Freude oder mit einer lahmen Einstellung singe. All dies spielt bei einer wohlklingenden Stimme eine große Rolle.
Fazit:
Im Endeffekt lernt jeder, dass richtig Singen ein Ausdruck der heiteren Lockerheit ist, aber doch gewisse Formen braucht. Jeder Mensch, der sich darauf einlässt, singen zu lernen, lässt sich auf das Selbst ein. Er erfährt dabei eine Menge über sich. Wo ist er zu eingefahren, wo kann er nicht loslassen, wo gibt es falsche Glaubenssätze, wo fehlt das Vertrauen zu sich selbst oder wo ist er zu ehrgeizig.
Dieses Wissen kann ihm einen Zugang eröffnen zur besseren Bewältigung privater und beruflicher Probleme. Deshalb ist Gesangunterricht nicht nur für Menschen gut, die schon eine schöne Stimme haben und sie verbessern möchten. Gesangunterricht ist für jeden aus jeder Berufssparte und jeden Alters wertvoll.
Es ist ein Erlebnis und ein Erfahren seiner selbst.
Gesangunterricht ist ein Schlüssel zum Ich.
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